Digitalisierung! – Schlachtruf der „kannibalistischen Weltordnung”?
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder, Psychologe und Psychoanalytiker, ist erster Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP). Der Text ist ein Ausschnitt aus seinem Vortrag beim NGfP-Kongress 2020, der am 6. und 7. März in Berlin stattfindet.
Dem der Bundesagentur für Arbeit angegliederten Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dämmert vermutlich, dass die tendenziell wachsende Arbeitslosigkeit – Folge der Digitalisierung – vor allem ein Signal dafür sein könnte, dass der kapitalistische Wachstumszwang an seine Grenzen stößt. In einem Bericht warnte das Institut bereits 2019 vor sinkenden Löhnen infolge der Digitalisierung. In den USA sei dies bereits der Fall, hieß es. Und: »Zudem sinkt der Beitrag der Arbeit zur Wertschöpfung weltweit bereits seit Jahren«, mahnten die Forscher.
Wie inzwischen zahlreiche Ökonomen warnt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung außerdem vor einer Wirtschaftskrise. Auto- und Maschinenhersteller meldeten bereits massive Konjunktureinbrüche. Insgesamt verbuchte das Statistische Bundesamt am 7.8.2019 einen Rückgang um 5,2 % im verarbeitenden Gewerbe. Die „Welt” sprach am selben Tag von »Schockzahlen aus der Industrie«. (1)
Ebenso wie die Zerstörung der Demokratie keine automatische Folge der Digitalisierung ist, sondern ihrer Entwicklung und Anwendung unter kapitalistischen Verhältnissen, ist auch die Arbeitslosigkeit keine automatische Folge der Digitalisierung, sondern ihrer Entwicklung und Anwendung unter kapitalistischen Verhältnissen: der Preis für das Festhalten an diesen (Eigentums)Verhältnissen, der auf diejenigen abgeschoben wird, die sie „auf die Straße setzen”: Die durch Digitalisierung mögliche Abschaffung der mühseligen Arbeit und Reduzierung der Arbeitszeit wird nicht zur Verkürzung der täglichen Arbeitszeit verwendet, sondern zur Reduzierung der Arbeitskräfte genützt zur Produktion von Arbeitslosigkeit bei unveränderter „Regel”-Arbeitszeit der immer kleiner werdenden Minderheit von „Arbeitsplatz-Besitzern”. (2)
Bedeutet Digitalisierung Fortschritt?
Bedeutet die Digitalisierung unter anderen Verhältnissen, die befreit sind von der Herrschaft des Privat-Eigentums, deshalb vielleicht einen Fortschritt? Oder ist die Digitalisierung sogar heute schon – unter den gegenwärtigen Herrschaftsbedingungen – ein Fortschritt, der Fortschritt der Produktivkräfte, der die gesellschaftlichen Verhältnisse der Herrschaft sprengen wird?
Die Rolle der Produktivkräfte – als die Produktionsverhältnisse sprengend (3) – wird immer überschätzt, vor allem die Ironie, die Marx damit verbunden hat, wenn er jubilierend von dem Kapital als Dampfwalze spricht, die die alten Verhältnisse sprengt, die Ironie nämlich, dass die Besitzer der Produktionsmittel, die Kapitalisten selbst sich das Grab schaufeln, indem sie die Entwicklung der Produktivkräfte „treibhausmäßig” fördern. (4) Der Punkt ist längst erreicht, von dem bereits Marx prognostizierte, dass die Produktivkräfte zu Destruktivkräften werden. Den Sturz des Kapital-Verhältnisses vollbringen also nicht die Maschinen, sondern das müssen die Menschen schon selber in die Hand nehmen. (5)
Das Verständnis der Produktivkräfte – von Marx über Marcuse zu Gorz
Marcuse hat bereits 1941/42 in seiner Faschismusanalyse festgestellt: Herrschaft ist in den Produktivkräften inkorporiert. (6) Sie tragen „den Stempel der Produktionsbeziehungen”, hat der französische Sozialphilosph André Gorz 35 Jahre später, (S. 134) (7) den Faden wieder aufgegriffen: Die Produktivkräfte sind „Matrices der hierarchischen Sozialbeziehungen, der Pyramidenstruktur aller Institutionen, der kulturellen, politischen und beruflichen Monopole”.
Sie sind funktionell – also nicht sprengend – zum größten Teil nur innerhalb der Logik der Kapitalverwertung: „Sowohl Technostruktur als auch Produktionsstruktur sind gegenüber einer Logik der Akkumulation funktionell, die zwangsläufig auf die Überakkumulation und die Kapitalzerstörungen hinausläuft” (S.130). Die Produktivkräfte haben, wie Gorz ausgeführt hat, in erster Linie die Funktion, die Überakkumulationskrise aufzuschieben, indem sie den Konsum am Laufen halten, ohne das Niveau der Befriedigung zu erhöhen.
Das geschieht mittels Techniken der Verschwendung, d.h. destruktiver Produktion, die in die Produktionsweise und in die Art und Weise der Verwendung der Produkte integriert ist (S.125). Deren Hauptziel ist: die Veralterung der Produkte und die Substitution eines Produkttyps durch einen anderen zu beschleunigen, der zwar nicht zwangsläufig besser, sondern «revolutionär», kurz: neu ist. Die Beschleunigung der Veralterung (die Lancierung von «Neuheiten») erlangt eine entscheidende Bedeutung für die Beibehaltung oder gar Steigerung der Gewinnspannen. Sie wird zur Voraussetzung insbesondere der Investition in neue Verfahren und Maschinen und zum Hauptfaktor des Wachstums.
Mehr Daten bedeuten nicht automatisch mehr Wissen
Der Mathematiker und Methodenwissenschaftler Gerd Antes, viele Jahre Leiter des Deutschen Cochrane Zentrums für Verbes-
serung der wissenschaftlichen Grundlagen für Entscheidungen im Gesundheitssystem (8) kommentiert diese Entwicklung im Bereich der Medizin und Psychotherapie folgendermaßen: ‚Wir werden täglich mit Schlagworten wie Digital Health, künstliche Intelligenz und personalisierte Medizin überschwemmt. Die zentrale Botschaft lautet: Alles wird besser. In diesem Hype werden jedoch „so viele fundamentale Grundlagen der Wissensentstehung verletzt”, und „alle grundlegenden Kriterien der Wissenschaft ignoriert”, „dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann diese offensichtlich und nachgewiesen werden”. (9)
In technischen Zusammenhängen mag das als Sachschaden und Verschwendung akzeptiert werden, in der Medizin bedeutet es Krankheit und Tod. Aus wissenschaftlicher Sicht sei für ihn klar: Mehr Daten bedeuteten nicht automatisch mehr Wissen. Die Idee basiere auf der falschen Annahme, dass man riesige Datenmengen völlig unstrukturiert und unsystematisch durchwühlen kann und dabei auf sinnvolle Zusammenhänge stößt. „Das ist wissenschaftlicher Unfug und kann nicht funktionieren. Big Data ist ein Hype, der uns geradewegs in eine Falle führt”, argumentierte Antes. Die Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens sei es, mit Hilfe von Theorie und Daten Hypothesen zu generieren, die empirisch durch Studien bestätigt oder widerlegt werden müssen. „Sucht man in riesigen Datenmengen einfach nach Korrelationen, dann kommt da unglaublich viel Schwachsinn heraus. Das ist wie das Suchen nach einer Nadel im Heuhaufen. Durch Big Data macht man jedoch den Heuhaufen nur noch größer”, sagte der Experte für evidenzbasierte Medizin. Die Digitalisierung, so Antes, sei zu einer Ideologie und zur Staatsräson mutiert (10), die realisiert werden muss. Speicherplatz und Rechnerkraft haben die kritische Betrachtung von Nutzen vs. Risiken und den damit verbundenen Kosten in der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems abgelöst.
Damit ist die Digitalisierung jedoch nicht ohne Bedeutung. Wenn nicht für die Weiterentwicklung der Medizin und Psychotherapie, so ist der Zugriff auf gigantische Datensätze gleichwohl von einem Interesse sowohl von kommerziellem als auch politischem Interesse und zwar für die Meinungserforschung und Meinungsbeeinflussung, Werbung und psychologische Kriegsführung. (11) Notwendig zwar nicht für die Entfaltung der Produktivkräft aber bei der „Notwendigkeit” der Überwachung; darin, dass man nicht nur große Datenmengen, sondern die Daten möglichst aller (Beherrschten) hat und diese zugleich personalisiert sind: „Gesichtserkennung”, Krankendaten, Strafdaten, politische Orientierung, Schufa usw.
Überwacht, verführt, stillgestellt und am Ende loyal ans System gebunden
Nicht nur, dass die Produktivkräfte nichts mehr sprengen, sondern sie verstärken im Gegenteil die Herrschaft, machen sie zugleich unsichtbar (Nassehi 2019) (12), indem sie in den Alltag eingegangen sind, zur Selbstverständlichkeit geworden (Bourdieu), „unbewusst” geworden. Deshalb können wir uns die Gesellschaft der Zukunft auch nicht mehr vorstellen ohne Digitalisierung; so sehr geht diese schon in großen Teilen in unsere Daseinsvorsorge und Infrastruktur, Logistik, Medizin, Verkehrsregelung, Produktion ein. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir „mit einem Klick alles erledigen können” – und nehmen in Kauf, dass wir bei jedem Klick Informationen über uns weitergeben, über den Ort, an dem wir uns gerade befinden, über das Produkt, die Dienstleistung, die wir gerade bezahlen, und – verrechnet mit den anderen Daten, mit denen wir bereits die Computer gefüttert haben – über unsere Absichten und nächsten Wege. Das bindet uns in Loyalität an das System, das uns überwacht, verführt, anstachelt und stillstellt (Foucault) – statt uns von ihm zu befreien, statt die Fesseln zu sprengen. Diese Loyalität überwältigt auch das Denken von Teilen der Linken, zumindest in der Partei Die Linke. Das ist ablesbar, wenn Katja Kipping und andere phantasieren: „Die Digitalisierung eröffnet Chancen für eine demokratische wie solidarische Gestaltung von Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums – und ist selbst das Ergebnis sozialer Kämpfe, die das Kapital dazu zwangen, in die Automatisierung von Arbeit zu investieren, statt die Ausbeutung der Arbeit zu intensivieren.” (13)
Es reicht nicht, die Digitalisierung als fortschrittliche Produktivkraft in die Hände anderer / „unserer” Leute zu legen, um die inhumanen Folgen loszuwerden (obwohl die Verdrängung der falschen Leute von der Macht grundsätzlich richtig ist). Es bleibt weiterhin die Ausschaltung der Selbstbestimmung, der Entscheidung dieser Massen über ihre Laufrichtung, die Ausschaltung ihrer schöpferischen Kraft und ihre Konzentration in der Spitze der Hierarchie der Lenker. Digitalisierung hat die Herrschafts-Funktion inkorporiert: in der Zentralisierung der Information, der schnellen Verarbeitung und Einleitung der Konsequenzen der Ergebnisse der Berechnungen:
Damit werden die Fähigkeiten der einzelnen bei dieser Aufrechterhaltung zu „Stör- und Fehlerquellen”, die ausgeschaltet werden müssen. Und an die Stelle der menschlichen Kreativität müssen Belohnungssysteme gesetzt werden – Boni und Sanktionen: Zuckerbrot und Peitsche.
Die Wiedergeburt des Autoritären
Und damit kommen wir zu einem weiteren Punkt: die gegenwärtige Wiedergeburt des Autoritären; sie wird durch die Digitalisierung unterstützt, ja geradezu forciert: Der Glaube an den Fortschritt der Wissenschaft (deren Funktion nur die Enteignung der kreativen Potentiale der einzelnen ist) und ihre Konzentration in den zentralen Bürokratien unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Glauben an den starken Mann (und habe er das Geschlecht einer Frau), der seine Stärke ja nur aus der Schwäche der Vielen bezieht, die sich ihm unterwerfen.
Diese Arten von Glauben basieren auf Verleugnung – Verleugnung dessen, was diese Wissenschaft, die Religion der Pk (Gorz 1976, S. 130) ausschaltet, bzw. deren Ausschaltung legitimiert, die Verleugnung der „Grenzen” des Wachstums, die Grenzen des Kapitalismus als Lebensmodell sind, die Verleugnung der Begrenztheit des Individuums (das seine Bezogenheit verleugnet), die Verleugnung des Krebsgeschwürs des Privateigentums (an Produktionsmitteln), in der sie alle zusammenfinden.
Die Digitalisierung, bzw. die dazu nötigen (fähigen) Maschinen sind so faszinierend, dass darüber ihre Voraussetzungen vergessen werden: die Produktionsbedingungen; die elendeste Ausbeutung, die es mit jeder historisch bekannten Sklavenschinderei aufnehmen kann. Amazon steht inzwischen in der Kritik, aber Apple? Der Apple-Computer ist entschieden teurer als alle vergleichbaren Geräte. Deshalb ist er ja auch „unvergleichlich” und hebt den Benutzer in eine andere Klasse. Die Herstellung geschieht unter unglaublichen Bedingungen weitab von unseren Sphären: in Indonesien, Indien, im Kongo, auch in China. Für die Gewinnung der notwendigen Materialien werden Wälder gerodet, Meere verseucht, Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre gepumpt – verheerend nicht nur für die Anwohner und die zu Tode sich schuftenden Arbeiter.
„Imperiale Lebensweise” nennen Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) (14) diese Ignoranz unseres Lebens auf Kosten der anderen, die wir „vergessen”. Wir leben nicht nur auf Kosten der „Dritten Welt” (das gilt auch, wenn wir diese Bezeichnung nicht mehr verwenden). Dieses Vergessen trifft aber zugleich auch die Arbeitssklaven in den Call Center und anderen „Service”-Einrichtungen, die unter permanenter Überwachung ihre eintönige Arbeit verrichten müssen. Das Vergessen gilt auch den von den Rationalisierungszielen der Digitalisierung „überflüssig” gemachten: in den nächsten 10, 15 Jahren sollen 50 % der Normal-Arbeitsplätze wegfallen. (Hans Böckler Stiftung. (15)
Dieses Vergessen ermöglicht uns, unsere „schöne neue Welt” zu genießen: ohne „schlechtes Gewissen”, ohne uns um die zu kümmern, denen wir diese Privilegierung verdanken. „Schmarotzer” wäre der weniger noble Ausdruck für unsere Lebensweise.
Demgegenüber ist die Kritik an der Digitalisierung „hilflos”, selbst wenn sie als Kritik an unserer Entfremdung, der Zerstörung des Analogen auftritt, als Kritik an der Überwachung, an der Zerstörung der Demokratie, solange sie nicht zu diesen „vergessenen” Voraussetzungen vorstößt. Dies erklärt zugleich auch unser Unverständnis unserer eigenen Situation gegenüber: Wie kann es sein, dass in den „reichsten Ländern” die Opposition sich nach rechts bewegt?
Rechte besetzen Platz der Opposition
Die Rechten geben dem Unmut von „vergessenen” Teilen der Bevölkerung die rechten Parolen, der Unzufriedenheit mit dem Gegebenen, der Kritik an Politik und Medien („Lügenpresse”) und bieten der Wut einen „Sündenbock” an für die Zustände, gegen die sich der Unmut richtet, und lenken damit von den tatsächlichen Ursachen und den dafür Verantwortlichen ab.
Wenn die Rechten behaupten, die Ausländer, die Flüchtlinge seien Schuld daran, dass sie zu kurz gekommen sind, adressieren sie zwar die gegenwärtige Regierung, nehmen insofern den Platz der Opposition ein, aber sie werfen der Regierung vor, was ihr gerade nicht vorzuwerfen ist: die Zuflucht für die Geflüchteten. Sie nennen die Fluchtursachen nicht beim Namen: die Zerstörung der Lebensbedingungen der Geflüchteten, für die die Regierung tatsächlich verantwortlich ist, und sei es durch die bloße Duldung der Verbrechen von anderen.
Die Rechten nehmen den Platz der Opposition ein, den die Linken nicht einnehmen, nicht eingenommen haben – sie haben sich stattdessen als ministrabel zu erweisen versucht, (16) begleitet vom „Vergessen” der anderen. Die Diskussion vom Ende der Arbeitsgesellschaft, vom Verschwinden des Proletariats ist Ausdruck des Vergessens der Ausbeutung in der „Dritten Welt”, die wir inzwischen „Eine Welt” nennen, damit die tiefe Kluft zwischen uns und den anderen verleugnend.
Indem wir dem Schein des Verschwindens erlagen, konnten wir uns „guten Gewissens” arrangieren mit der imperialen Lebensweise. Die Behauptung vom Verschwinden des Proletariats ist zugleich eine Verleugnung unserer eigenen „Proletarisierung”. Mit der durch die Digitalisierung treibhausmäßig weitergetriebenen „Verwissenschaftlichung” der Produktion werden die Wissenschaft und mit ihr das Personal der Wissenschaft, zu Produzenten von Mehrwert und d.h. Objekten der Ausbeutung. (17) Diese Verleugnung äußert sich in der Rechtsentwicklung (auch) der „Intelligenz”. Damit ist die rechte Agitation Teil des Diskurses der Macht geworden, wenn nicht bereits der Diskurs der Macht selbst.
Und die durch die Enttäuschung über die eigene Niederlage zynisch und opportunistisch (18) gewendeten ehemaligen Linken sekundieren, indem sie die Unzufriedenen in die Ecke schieben, in der sie sich von ihnen absetzen und sich über sie erheben können: vom „Mob” wenn sie, sich dabei auf Hannah Arendt stützend, den Faschismus als „Allianz von Mob und Elite” erklären. (19) Wir haben genau wieder jene Überheblichkeit der Intelligenz, dem „Volk” (Mob) die Schuld an einer Entwicklung (nach rechts) zuzuschieben, (20) deren Bedingungen sie selbst befördert und von der sie selber profitiert haben: ihre imperiale Lebensweise. Nicht nur in den USA ist „America first” wörtlich zu nehmen: die Reichen sind adressiert, sie werden immer reicher, sie beherrschen die wichtigsten Firmen und damit das Land wie feudale Herrscher. Als „Refeudalisierung”, bezeichnet Jean Ziegler die Entwicklung, in deren Verlauf immer mehr Menschen verarmen und die Armen immer ärmer werden. Die Entwicklung einer „Sicherheits”-Architektur ist dringend nötig, um diese Gesellschaftsstruktur zu „schützen” – durch Überwachung, Drohnen, Datenanalyse. Die Digitalisierung befördert die autoritäre Entwicklung, die Rückkehr des Autoritären in die gesellschaftlichen Beziehungen.
„Digitalisierung” ist die alles entscheidende Parole des Diskurses der Macht; nicht der siegreichen Macht, sondern der Macht, die uns zu überrumpeln versucht mit dem fait accompli ihrer Installationen, mit der Behauptung ihrer Endgültigkeit, der Technologie gewordenen Herrschaft.
Verweigerung ist möglich
Aber wir sind nicht zwangsläufig Spielball, sondern können Akteur sein. Das Individuum nimmt einen (seinen) Platz ein im Diskurs der Macht oder verweigert sich diesem (Lyotard 1983). Diese Verweigerung ist auch bei den Geräten möglich, die den Diskurs vertreten – so wie jeder Diskurs immer auch die Möglichkeit zulässt, gegen die Regeln zu verstoßen, ihnen nicht zu folgen.
Allerdings hat die Verweigerung Konsequenzen – für das soziale Leben, für die Anerkennung, den Dienstwagen, die Beförderung, die Erhöhung der Boni usw. Aus dem Dilemma, dass die Verweigerung nicht ohne Konsequenzen zu haben ist, kann die Möglichkeit einer anderen Art von Verleugnung helfen: die Verleugnung der Möglichkeit sich zu verweigern, der Möglichkeit des Ungehorsams, der Möglichkeit zum Verstoß gegen die Regeln des Diskurses, statt sie zu befolgen und damit die Verhältnisse zu reproduzieren.
Anmerkungen:
(1) zit. n. Susan Bonath (2019) Entlassungen in der Autoindustrie. Krise trifft Arbeitsmarkt. Bundesagentur: Immer mehr Menschen verlieren ihren Job. Viele Erwerbslose werden aber nicht als solche erfasst. Junge Welt vom 9–8‑2019, S.5
https://www.jungewelt.de/artikel/360447.entlassungen-in-der-autoindustrie-krise-trifft-arbeitsmarkt.html
(2) Das umfasst auch: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte” (Karl Marx/Friedrich Engels (1845/46): Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 69).
(3) Karl Marx (1857/58) Grundrisse, MEW 42, S. 602
(4) „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren”. (MEW 4, 1972, S. 465)
(5) und nicht die Maschinen oder Software-Programme (s. das Missverständnis der Ironie des Begriffs des automatischen Subjekts: Karl Marx (1867) Das Kapital, (MEW 23. S. 169)
(6) Herbert Marcuse. Feindanalysen. Über die Deutschen. Hrsg. von Detlef Clausen. Lüneburg 1998 zu Klampen Verlag
(7) André Gorz (1976) Zur Kritik der Produktivkräfte. In: Les Temps Modernes. [dt. in: AG (1977) Ökologie und Politik. Reinbek: Rowohlt, 116–137]
(8) internationales Netzwerk, das die wissenschaftlichen Grundlagen für Entscheidungen im Gesundheitssystem verbessern will;
http://www.cochrane.de/de/
(9) https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Warnung-vor-unhaltbaren-Heilsversprechen-405365.html
(10) https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Warnung-vor-unhaltbaren-Heilsversprechen-405365.html
(11) Christian Bunke. Geschäftsfeld Manipulation. Cambridge Analytica und Co.: Beeinflussung ist von kommerziellem, politischem und wirtschaftlichem Interesse. Junge Welt vom 16.01.2020, S. 3;
https://www.jungewelt.de/artikel/370623.profiling-im-netz-gesch%C3%A4ftsfeld-manipulation.html
(12) Armin Nassehi. Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H.Beck 2019
(13) „Digitalisierung eröffnet Chancen für eine demokratische wie solidarische Gestaltung von Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums – und ist selbst das Ergebnis sozialer Kämpfe, die das Kapital dazu zwangen, in die Automatisierung von Arbeit zu investieren, statt die Ausbeutung der Arbeit zu intensivieren.” In: 10 Punkte für eine digitale Agenda. Ein Diskussionspapier von Katja Kipping, Julia Schramm, Anke Domscheit-Berg und Martin Delius;
https://www.die-linke.de/themen/digitalisierung/10-punkte-fuer-eine-digitale-agenda/
(14) Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) Imperiale Lebensweise. München: oekom
(15) Hans Böckler Stiftung (2018). Atlas Der Arbeit
https://www.boeckler.de/pdf/atlas_der_arbeit_2018.pdf
(16) Klaus-Jürgen Bruder (2012) Massenloyalität. In: Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch und Benjamin Lemke. Zur Aktualität der Sozialpsychologie Peter Brückners. Giessen 2013: Psychosozial-Verlag, S. 13–31; s.a. Klaus-Jürgen Bruder (2018) Diskurs der Macht. Worauf bereitet der Anti-Semitismus-Diskurs uns vor? In: Klaus-Jürgen Bruder et al. (2019). „Paralyse der Kritik: Eine Gesellschaft ohne Opposition?” Giessen 2019: Psychosozial-Verlag, S. 15–22 & 37–47
(17) Karl Marx (1857/58) Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie („Maschinenfragment”), MEW 42, S. 600 ff
(18) S. Paolo Virno loc. cit.
(19) Paul Mason Die Synergie von künstlicher Intelligenz und neoliberaler Ideologie ist extrem bedrohlich». Interview durch Daniel Binswanger, 03.08.2019; https://www.republik.ch/2019/08/03/die- synergie-von-kuenstlicher-intelligenz-und-neoliberaler-ideologie-ist- extrem-bedrohlich
(20) Die Adler bereits 1919 in bisher nicht wieder erreichter Klarheit kritisiert hatte.
Quelle: Schattenblick, Februar 2020
http://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0054.html