Erschienen in „junge Welt” am 11.03.2016: https://www.jungewelt.de/2016/03–11/042.php
Und was machen wir?
Rückblick auf den Kongress »Migration und Rassismus« der Neuen Gesellschaft für Psychologie in Berlin
Von Christa Schaffmann
In diesen Tagen zerreißt es Familien, Freundschaften zerbrechen. Menschen, von denen man meinte, sie lägen mit einem auf gleicher Wellenlänge, finden Grenzschließungen plötzlich sinnvoll; schließlich könne man ja nicht alle aufnehmen. Auch Schiffe der NATO in der Ägäis sind zum Schutz vor »Flüchtlingsmassen« auf einmal akzeptabel, als kämen da Invasoren. Plötzlich ist unter den Pegida-Demonstranten im Fernsehen einer zu sehen, den man doch zu kennen glaubte und den man nie für rassistisch oder fremdenfeindlich hielt. Und dann schreit mich eine Freundin (kann ich sie noch so nennen?) auch noch an: »Du bist so was von extrem; warte mal, bis du jeden Monat 100 Euro mehr für die Krankenversicherung zahlen sollst wegen der vielen Flüchtlinge. Dann wirst Du ganz schnell zur Vernunft kommen!«
Wer sind die Vernünftigen in diesen Tagen und Wochen? Ich glaube, ich habe etwa 200 von ihnen am vergangenen Wochenende beim Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) in Berlin getroffen, der den Titel trug »Migration und Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit«. Das war ein gutes Gefühl. Historiker und Politologen, Psychologen und Psychotherapeuten, Erziehungs- und Medienwissenschaftler – sie alle sprachen aus einer fachlichen Perspektive sehr kritisch über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und die Asylgesetzgebung, über die aktuelle Situation und die wahren Ursachen für das, was manche Flüchtlingskrise nennen.
Elisabeth Rohr, ehemals Professorin für interkulturelle Erziehung in Marburg, genügten wenige Zahlen, um den nationalistischen Aufschrei vom drohenden Untergang des Abendlandes ad absurdum zu führen: Von den weltweit geschätzten 60 Millionen Flüchtlingen hat Deutschland 2014 nur 0,4 Prozent aufgenommen und 2015 ganze 1,83 Prozent. Gemessen an der Bevölkerungszahl, liegt die BRD damit selbst in Europa nur an sechster Stelle. Würden hier im Verhältnis so viele Flüchtlinge aufgenommen wie im kleinen Libanon, wären das 20 Millionen Menschen! Warum verbreiten also Politiker und Journalisten Panik? Haben sie alle schon vergessen, dass es dem vom Krieg zerstörten Deutschland nach 1945 gelang, 40 Millionen Flüchtlinge aufzunehmen?
Es tat gut, beim Kongress viele zu erleben, die nicht der sich epidemisch ausbreitenden Geschichtsvergessenheit erliegen und der damit verbundenen »Unfähigkeit, selbst zu denken« (Achille Mbembe), die sich nicht von den Informationsbrosamen der Leitmedien manipulieren lassen. Es hatte etwas Befreiendes, statt dessen tatsächliche Fluchtursachen zu benennen, angefangen von der deutschen und europäischen Handelspolitik in Afrika bis zur politischen und militärischen Einmischung der USA und ihrer Verbündeten in Irak, Libyen und Syrien. So wurden die Kriegsflüchtlinge produziert, die man jetzt als Sozialschmarotzer verunglimpft und um jeden Preis von Deutschlands Grenzen fernhalten will. Der Historiker Kurt Gritsch erinnerte in diesem Kontext daran, dass Libyen noch vor wenigen Jahren Platz 53 des Human Development Index belegte und nach dem gewaltsamen Sturz Ghaddafis zum »Failed state« wurde.
Und Libyen war nur eines der Länder, in denen das Pentagon in den vergangenen Jahren einen »Regime-Change« in Gang setzte. Andere waren die Ukraine, mit Abstrichen Tunesien und Ägypten. In Irak, Afghanistan und Syrien wurden Millionen Menschen nach ähnlichen Szenarien zu Flüchtlingen vor Hunger, Terror, Krieg und Tod. »Jetzt ernten wir die Früchte der Politik unseres und anderer Länder und stellen fest: Es sind Menschen«, sagte der NGfP-Vorsitzende Klaus-Jürgen Bruder: »Es ist der Kapitalismus, dessen Spesen-Rechnung wir jetzt präsentiert bekommen.«
Und was machen »wir«, wer ist das überhaupt? 2015 wurde es unerträglich, mittels dieser drei Buchstaben von der Politik vereinnahmt zu werden, als teilte man deren Verantwortung. Aber vielleicht ist das ja zwangsläufig so? »Wir haben jahrelang weggeschaut«, sagte Bruder, und halten uns heute »die Ohren zu, pressen die Lippen zusammen, wenn wir auslöffeln müssen, was uns Politiker im Dienste des Systemerhalts eingebrockt haben. Wann endlich ziehen wir daraus die Konsequenzen?«
Hannah Arendt sprach von der Banalität des Bösen. 1933 nahmen die Nazis den Reichstagsbrand zum Vorwand, sämtliche Bürgerrechte außer Kraft zu setzen. Von da an, schrieb Arendt, »habe ich mich verantwortlich gefühlt«. Wie viele Flüchtlingsunterkünfte müssen brennen, damit sich viel mehr Deutsche für eine Politik verantwortlich fühlen und gegen sie aufbegehren, die sowohl Flüchtlingsströme erzeugt als auch rassistischen Übergriffen – mal mehr, mal weniger subtil – Vorschub leistet?
1990 forderte die NPD »Kriminelle Ausländer raus«. Jetzt ist genau das Regierungspolitik. Wie viele Forderungen dieser verfassungsfeindlichen Partei sollen noch zu Gesetzen werden? Klaus-Jürgen Bruders Fazit: »Das Lamentieren nützt nichts, wir haben wieder mal nur die Wahl zwischen zwei faschistischen Lösungen: die Menschen ertrinken zu lassen oder sie umzubringen. Es sei denn, wir ändern unsere Laufrichtung, wie das Thomas Bernhard einmal genannt hat. Rosa Luxemburg bezeichnete es als die Wahl zwischen Sozialismus oder Barbarei. Es ist unglaublich: Im Augenblick des größten Menschheitsproblems steht die linke Alternative nicht zur Verfügung; jedenfalls nicht als eine, die Massen ergreifende. Zu verdanken haben wir das zwar denen, die auf unsere Kosten leben, aber wer hat die denn an die Macht gebracht? Schließlich leben wir ja in einer ›Demokratie‹; da gibt es keine Ausreden.«