Almuth Bruder-Bezzel
Zusammenfassung
Es geht um das Spannungsverhältnis des Eigenen und Fremden im Individuum durch Sozialisation und Propaganda. Weitreichende Sozialisationseinflüsse von Beginn des Lebens an, auch die weiteren Normierungseinflüsse bis hin zur propagandistischen Manipulation, auch von Emotionen und unbewussten Prozessen, formen unser psychisches Leben. Wie viel bleibt da noch für das Eigene und Einzigartige? Zugleich versucht das Individuum Eigenständigkeit zu bewahren, mithilfe dessen, was Adler schöpferische Kraft nennt. Wie bedeutungsvoll ist diese Kraft und wie weit kann sie Autonomes gestalten? Das führt auch zu Überlegungen, unter welchen Bedingungen und weshalb das Individuum auf seine Individualität verzichtet somit sich konform und gehorsam verhält. Dies gilt vor allem in Zeiten der gesellschaftlichen und individuellen Krisen, in denen der Druck auf Anpassung stärker, der Spielraum für Einzigartigkeit geringer wird.
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Wir leben heute in Deutschland und weltweit seit mindestens 4 Jahren in einer Zeit der Krisen, begonnen mit der Coronakrise, weiter mit dem Ukraine Krieg und Gaza Krieg, in die auch wir verwickelt sind. Diese Krisen und ihre Handhabung haben schwere individuelle und gesellschaftliche Folgen für uns (Aggressionen, Depressionen, Verarmung, existentielle Verunsicherung etc.), Dabei kommt es zu Aufruhr und Unzufriedenheit, die sich in Demonstrationen, Umfrageergebnissen, Streiks und der Rechtsentwicklung ausdrücken.. Krisenzeiten sind nicht nur Zeiten der Einschränkung der Freiheit, sondern Zeiten der großen Propaganda, der Manipulation, durch die wir mit einem erheblichen medialem, öffentlichen Aufwand Meinungen, Haltungen, Verhaltensweisen, Emotionen aufgedrängt werden sollen. Das also ist die Frage des gesellschaftlichen Fremden und Eigenen, die sich auch im Einzelnen niederschlägt.
Die Frage nach Eigenem und Fremdem stellt sich aber bereits in ganz normalen Entwicklungslinien im Sozialisationsprozess eines jeden Menschen. Wie sieht das Verfremden und das Eigene in der gesamten Entwicklung des Individuums in sogenannten normalen Zeiten unter normalen Umständen aus?
I. Das Fremde und das Eigene als Wirkungen der Sozialisation.
Es geht mir um das innerseelische Eigene und Fremde, das Authentische in mir und das Fremde in mir, das nicht ‑Authentische, nicht ‑Autonome, das mir eingepflanzt wird, durch das ich mich anpasse, unterordne. Man kann hier an das Implantieren der Normen und Regeln denken, an das Überich, die Internalisierung der Ge- und Verbote der Mächtigen, das stets als Zensor aktiv ist oder auch an Winnicotts wahres und falsches Selbst.
Durch den schrittweisen ständigen Einfluss in der Sozialisation nehmen wir das Fremde in uns auf, Normen, Haltungen, Sichtweisen, kulturelle Zusammenhänge, aber auch Fähigkeiten und Bedürfnisse. Über verschiedene erzieherische Mittel, über symbiotische Bindung und Identifikation, wird in der Familie die Entstehung von Meinungen, Weltbildern, Lebensstilen, grundgelegt, Das wird fortgesetzt im Erwerb von Grundhaltungen und Sekundärtugenden im Kindergarten, in der Schule und in erweiterten sozialen Beziehungen, was dann im Arbeitsprozess vertieft, vielleicht auch verändert wird. Wünsche und Bedürfnisse werden durch Konsumangebote stimuliert und produziert, alles wird über verschiedene Massenmedien, durch kulturelle Angebote, und über Kommunikation und Wissenserwerb im Internet vertieft, in ständiger Wiederholung.
Diese Einflüsse bleiben als Einflüsse unbewusst und dringen tief in das Unbewusste ein. So konnte Laplanche sagen: das Unbewusste des Kindes ist das Unbewusste des Erwachsenen (1992) Die Botschaften werden ins Ich oder Selbst eingelagert und verwoben, mithilfe der Instanzen von Ich und Über-Ich, mithilfe der Abwehrmechanismen u.a. Identifikation, Introjektion, Imitation. Die Einflüsse werden verinnerlicht, tradiert und als soziales und kulturelles Erbe weitergegeben. Das Fremde wurde angeeignet, zu eigen gemacht, und kann so
als das Eigene erlebt werden. Wir tun dann so, als folgten wir den eigenen Befehlen und Überlegungen.
Otto Gross, (geb. 1877) der psychoanalytisch inspirierte „Paradies-Sucher“ und Monte Verita- Bewohner um die Jahrhundertwende, sieht im innerseelischen Eigenen und Fremden einen Gegensatz oder gar einen Konflikt, eine innere Zerrissenheit. Er konstatiert einen „artgemäßen Urinstinkt„ der auf die Erhaltung der eigenen Individualität und die liebend- ethische Beziehung zur Individualität der anderen zugleich gerichtet ist: das Streben sich selbst nicht vergewaltigen zu lassen und andere nicht zu vergewaltigen.“(Gross 1914, S.82).Das “ Schicksal“ solcher Menschen „ist der innere Konflikt des Eigenen und Fremden, die innere Zerrissenheit, das Leiden an sich selbst“.(S.85 ).
Dagegen aber werde bei den meisten, den autoritären, Menschen, „die Suggestion von fremdem Willen, welche man Erziehung nennt, [wird] in das eigene Wollen aufgenommen. Und so bestehen die meisten geradezu allein aus fremdem Willen, … aus fremdem Sein, das ihnen völlig als die eigene Persönlichkeit erscheint“. Sie sind “einheitlich“ geworden, “ Sie haben sich das innere Zerrissensein erspart“ (1914, S. 85, vgl. auch Bruder-Bezzel 2019, S. 169–190).
In dieser Radikalität ist Gross sicher einseitig und pessimistisch. Er scheint auch darin an Freuds Widerspruch zwischen Individuum und – einer triebfeindlichen ‑Gesellschaft- zu hängen, womit das interaktive soziale Wesen des Menschen eher ignoriert wird.
Es stellt sich gleichwohl ernsthaft die Frage, was das Eigene eigentlich ist, ob es das gibt? Denn es gibt kein Eigenes ohne das/oder vor dem Fremde(n), das Eigene hat sich aus dem Fremden heraus entwickelt. Ist es nicht doch auch illusionistisch, von einer reinen Individualität oder mit Winnicott von einem „wahren Selbst“ auszugehen? Doch gibt es durchaus unterschiedliche Ausprägungen von „Zerrissenheit“ oder von Angepasstheit, Abhängigkeit, Unterordnung, Außengeleitetsein (Riesman) versus Individualisierung, Authentizität und Autonomie. Dabei ist natürlich die Aufnahme des Fremden, die Aufnahme von gesellschaftlichen Regeln etc. lebensnotwendig, erst danach und auf diesem Boden, kann eine ‑relative ‑Befreiung davon folgen. So konnte der Psychologe Peter Brückner schreiben: Anpassung geht der Autonomie voraus (Brückner 1966, S. 24). Aus den Bausteinen von Kenntnissen und Erfahrungen, aus der Fähigkeit zur Reflexion, dem Mut zum Ungehorsam und Zweifel, findet ein Individuum den eigenen Lebensstil, kann sich so ein Stück weit von der autoritären Abhängigkeit befreien. (vgl. Fromm 1963, S. 11).
Der Sozialisationsprozess, die Integration von Einflüssen, zeigt den gesellschaftlichen Charakter der Psyche, zeigt das soziale Wesen des Menschen. Dabei wirkt das Individuum interaktiv mit, antwortet, gestaltet, auch mithilfe von Abwehrmechanismen und Kompensation. Wahrnehmungen sind daher nicht Widerspiegelung der Realität, sondern kreative Erfindungen. Dies nennt Adler „schöpferische Kraft“ Mit dem Schöpferischen kommt etwas ins Spiel, was Züge von Freiheit, Unbestimmtheit, nicht Vorhersagbarem, nicht Determiniertem hat. Das „Eigene“ hat sich daraus entwickelt, als Selbstfindung, Selbstproduktion. Adler formuliert sogar, dass sich das Ich „selbstschöpferisch“ bildet, „unter Gebrauch aller Möglichkeiten“ und Bezogenheiten, von exogenen Faktoren Milieueinflüssen (Adler 1932h, S. 529, vgl. Witte 2010, S. 67). Infrage steht immer, wie das Mengenverhältnis zwischen Fremdem und Eigenem ist,
denn das Ausmaß an Fremdbestimmtheit und das Ausmaß an Individualität der Fähigkeiten sind individuell und kulturell historisch unterschiedlich verteilt. So viele Einwirkungen durch die Sozialisation durch gesellschaftliche Zustände lassen den schöpferischen Anteil schmal werden, und dies besonders in Zeiten der gesellschaftlichen und individuellen Krisen. Wie autonom, wie kreativ kann ein Individuum noch sein unter starken äußeren Einwirkungen?
Das reine, das „wahre“ Selbst ist eine Fiktion. Ernüchternd müssen wir einschränken mit Jean Paul Sartres Diktum: „Ich habe mich zu dem gemacht, wozu ich gemacht wurde“, und zwar gemacht durch den Blick des Anderen, wie Sartre dies ausführlich beschreibt (Sein und Nichts 1943).
Dieses Gemacht- werden und sich entsprechend selbst Machen, spielt im Konstruktivismus und im konstruktivistischen Feminismus, wie z.B .bei Simone de Beauvoir, bei Judith Butler eine große Rolle. Bei Simone de Beauvoir heißt es: man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht (1949), bei Butler geht es um Gender, die soziale Geschlechtsrolle, die von Geburt an festgelegt wird und dann „freiwillig“ permanent eingeübt, inszeniert wird, im doing gender, und zwar diskursiv und performativ, wodurch die Geschlechtsrolle zur sozialen Realität wird (Butler 1991) (vgl. Bruder-Bezzel 2020).
Hier ist Eigentätigkeit, das Schöpferische mit enthalten, aber doch ist es auch die Parodie oder Fiktion von Eigenmächtigkeit oder Selbstermächtigung, die heute, im Neoliberalismus, als Echtheit, Authentizität, als wahres Ich und Selbst geradezu beschworen wird, ohne sie als Fiktion zu entlarven.
Wir sind also gemacht durch die Zuschreibungen, die Betrachtung (Blick) der Anderen, in den sozialen Agenturen, und wir haben uns auch selbst gemacht durch die schöpferische Kraft. Wir sind, wie Adler das formuliert, Produkt und Produzent, Kunstwerk und Künstler zugleich, im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Determination (vgl. Bruder-Bezzel 2004).
II. Das Fremde und Eigene im gesellschaftlichen Raum
Jenseits der frühen Sozialisation und Erziehungsprozesse wird im gesellschaftlichen Raum das Eigene und das Fremde, durch Werbung, Massenkommunikation und Propaganda geprägt. Hier gelten zwar die gleichen Mechanismen und Techniken, aber sie sind nicht so subtil, sie sind offensichtlich, bewusst intendiert, auffälliger und nicht an einzelne Individuen,. sondern an Massen gerichtet.
In der Massenkommunikation und Propaganda1 wird eine öffentliche Meinung hergestellt, die Bevölkerung soll überzeugt werden durch die Diskurse, durch Überredung und Gleichschaltung.
Unverblümt heißt es bereits bei Walter Lippmann, dem Pionier der modernen Massenkommunikation: Die Elite benutzt ihre Macht, „um die Öffentlichkeit… die Dinge so sehen zu lassen, wie sie es wünschten“ (Lippmann 1922, S. 84). Oder ähnlich schreibt der Propagandaforscher Jacques Ellul: „Da die Regierung der [öffentlichen] Meinung nicht folgen kann, muss die Meinung der Regierung folgen…Die … Masse muss überzeugt werden.“ (Ellul 1962, S. 169). Es soll also die Sichtweise in Richtung der Zustimmung zur herrschenden Elite verändert oder hergestellt werden, es sollen Bedürfnisse und Wünsche nach bestimmten Angeboten des Konsums gelenkt oder erweckt werden.
Für diese manipulative Einflussnahme gilt, dass ihr Charakter als Propaganda unbewusst oder ungewusst wirken muss. Propaganda „ist ein im Geheimen, im Verborgenen, im Hintergrund stattfindender Vorgang“ so der Ellul (1962, S.8). Man darf nicht wissen, dass es Propaganda ist, sonst kämen wir uns betrogen vor und als Objekt von Manipulationen, das widerspricht unserem Selbstbewusstsein, so Ellul (ebd. S. 8). Und zudem müssen manipulative Botschaften auch unbewusste Bedürfnisse, Wünsche und Motive bedienen, und dies mit dem propagierten Gegenstand verknüpfen – das ist uns vor allem präsent in der Werbung für Produkte, in der mit dem Produkt Emotionales verbunden wird (z.B. Liebe beim Autokauf). Und auch hier gilt dass diese Propaganda im einzelnen nur wirken kann wenn sie auf passende Bedürfnisse, Wahrnehmungsmuster Emotionen und eine bestimmte Angepasstheit trifft.
In Zeiten von gesellschaftlichen Krisen wie auch in Zeiten von Kriegen spielt Propaganda eine herausragende Rolle, wird sie verstärkter eingesetzt, als in ruhigen, guten Zeiten. Und da in Krisenzeiten auch jeder einzelne sich stärker bedroht fühlt, desorientiert und hilflos, wirken diese Beeinflussungen in diesen Zeiten auch stärker, wir sind (aus Not, Angst) anfälliger für den Einfluss des Fremden, können uns weniger gut verteidigen. Die Werte der Freiheit werden in diesen Zeiten leicht über Bord geworfen, die Freiräume sind meist enger, das Einwirken von außen bedrängender und emotionalisierter. Dies haben wir auch in den letzten 4 Jahren in der Coronazeit und bis heute als Begleitung der Kriege Ukraine, Gaza, erlebt.
Für diese Propaganda im öffentlichen Raum wird eine unüberschaubare Fülle von Techniken der Beeinflussung eingesetzt, herausragend sind: Wiederholungen, Monopolisierung und Emotionalisierung. Notfalls oder zusätzlich aber gibt es immer auch handfeste Vorschriften, Verbote und Gebote und Repressionen.
Wiederholung heißt, es wird mit allen Medien öffentlicher Nachrichten, Gesprächsrunden, Reden, Kommentaren immer wieder die gleiche Position vertreten, die gleichen Themen wiederholt. Monopolisierung heißt, es wird nur eine Information oder Meinung angeboten, verbunden mit einer vorgefertigten Sprachregelung, andere Meinungen und Ergebnisse werden verschwiegen, ausgeschaltet, diskriminiert oder gar verboten. bis hin zu sanktioniert. Zum Einsatz von Emotionen gehört das Schüren von Angst vor einem Feind oder vor etwas, die Aufstellung von Freund und Feind, durch Ächtung und Verfolgung von Kritikern, bei gleichzeitigem Einschwören auf Gemeinschaft und Solidarität der Mehrheit, was die Polarisierung, die Spaltung der Gesellschaft bedeutet.
Unter solchen massiven Einwirkungen ist es kaum mehr möglich Eigenes zu bewahren, Individualität zu leben, schöpferische Kraft zu entfalten. Es bleibt die Alternative: Flucht ins Autoritäre (Fromm) oder Gegenwehr mithilfe alternativer Informationen und Bündnissen.
III. Psychologische Begründungen zum Verzicht auf das Eigene.
Um zu verstehen, warum wir auf solche Einflüsse eingehen und damit relativ bereitwillig und gehorsam auf unsere Individualität verzichten, gibt es verschiedene innerpsychische Begründungen und Bedingungen, die allesamt den Menschen als ein soziales Wesen sehen. Dabei ist der Verzicht auf den eigenen Willen unbewusst gehalten, der Gehorsam wird dann (meist) nicht als Demütigung erlebt. Auch hier ist zu beachten, dass das Individuum in Zeiten individueller oder kollektiver Krisen anfälliger, geschwächt ist. Auch wirken sich hier die Unterschiede in den Persönlichkeitsstrukturen und Lebensstilen deutlich aus. Ich will vier Begründungen für Konformität und Gehorsam hervorheben.
1. Begründung: Angst vor einem Feind, vor Krankheiten, Tod, vor Katastrophen, Nicht selten wird in solchen Fällen das Schüren von Angst mit der Geste der Fürsorge verbunden – wie beim Corona Virus geschehen – oder bei Zuwiderhandeln auch mit der Androhung von Bestrafung. Angst vor Bestrafung Unterdrückung ist natürlich auch unabhängig von dieser Situation ein wichtiges Motiv. In diesen Fällen wird das Gehorchen am ehesten als Demütigung empfunden.. Angst verengt das Denken, senkt das Selbstwertgefühl, macht hilflos. „Angst essen Seele auf“ heißt ein Film von Rainer Fassbinder.
2. Begründung: Bedürfnis nach Gemeinschaft. „Trieb zum Anschluss“ (Gross)
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Konsens mit der Mehrheit, nach Gemeinschaft und Geborgenheit und umgekehrt die Angst, herauszufallen, ausgegrenzt zu sein, halte ich für das zentrale Motiv für Gehorsam und Konformität, für den Verzicht auf die Durchsetzung eines eigenen Willens, eigener Meinung. Dies wird auch von sehr vielen Autoren so gesehen. Zudem
belegen auch eine ganze Reihe von sozialpsychologischen Experimenten diesen Zusammenhang, so u.a. das Milgram Experiment, Experiment von Asch.
Für Otto Gross – auch für Adler – ist das die Begründung dafür dass das Kind sich anpasst nämlich das soziale Wesen des Menschen, das Bedürfnis nach Gemeinschaft nach Liebe nach sozialer Anerkennung. „Kein Mensch vermag bereits als Kind auf Liebe zu verzichten“, „die Angst vor Einsamkeit, der Trieb zum Anschluss zwingt das Kind sich anzupassen (Gross 1914, S. 84f). Die „Erlösung von der Einsamkeit… Wird an die Bedingung des Gehorsams, der Anpassung, des Verzichts auf eigenen Willen und eigene Art gebunden… Die Unfähigkeit des Kindesalters zum Widerstand gegen Suggestionen… wirkt als Prädisposition zum pathogenen inneren Konflikt, der aus der Unvereinbarkeit des wesensfremden mit dem eigenen hervor wächst. „ (Gross 1920, S. 150, zit. nach Bruder-Bezzel 2019, S.183).
Die Parallele zu Adler ist deutlich – mit dem sich Gross in diesen Aufsätzen (1914, 1920) ohnehin positiv auseinandersetzt- in seinen Postulaten des „Zärtlichkeitsbedürfnisses“ (1908) und des Gemeinschaftsgefühls, das im Zärtlichkeitsbedürfnis gründet. Im Bedürfnis nach Zärtlichkeit sieht Adler den „Hebel der Erziehung“ und der Formung des Kindes, da deren Befriedigung nur zu bekommen ist, „wenn sich das Kind dem Erzieher unterwirft“ (Adler 1908, S. 79), wie Adler das, weniger kritisch als Gross, sieht. Doch in seinem Aufsatz „Arzt als Erzieher“ (1904) – hier kommt auch Liebe als Erziehungsmittel vor (1904, S. 29f) hebt Adler vor allem die Erziehung zur Selbstständigkeit, zum Mut, zur Eigenwilligkeit hervor. „Gehorsamkeit beim Kinde darf nicht erzwungen werde“ Beim späteren Adler ist dann das Gemeinschaftsgefühl an zentrale, dominante Stelle seiner Psychologie gerückt, das Gemeinschaftsgefühl, das eigentlich die Humanität des Menschen ausmacht, die in der Verbundenheit mit den Menschen im engeren Umfeld und im gesamten Kosmos sich ausdrücken soll und das das oberste Ziel von Erziehung und Therapie für ein gelungenes, friedliches Zusammenleben darstellt.
Die Tatsache, dass dieses Gemeinschaftsgefühl ausgenutzt und missbraucht wird, in engeren Beziehungen, in der Familie, in einer Nation, in Krisen und Kriegszeiten besonders, dann als Volksgemeinschaft deklariert wird und dies meist verbunden wird mit der Ausgrenzung angeblicher Feinde – das war Adler mindestens in der Kriegszeit voll bewusst. Weite Teile der Individualpsychologen schütten an dieser Stelle das Kind mit dem Bade aus: Im neoliberalen, individualisierendem Denkstil wird Gemeinschaftsgefühl pauschal zurückgewiesen und mit der NS- Volksgemeinschaft verbunden, identifiziert. – Auch bei Erich Fromm hat das Bedürfnis nach Zusammenhalt einen zentralen Stellenwert. Dem Kind werde ein „heilloser Respekt vor der Konformität eingeimpft, die Angst, „anders“ zu sein und die Furcht, sich von der Herde zu entfernen.“ (Fromm 1963,S. 17)
Ganz ähnlich schreibt Alexander Mitscherlich (1963) zur Psychologie des Mitläufers: „Der drohende Verlust des Gruppenkontaktes ist ein erschreckendes Erlebnis und löst panische Angst und jede erdenkliche Anstrengung aus, die Übereinstimmung wiederzufinden…. Die freiwillige Isolierung von der Gruppe… gehört offenbar zu den allerschwersten Kontrollleistungen des Ichs.“ (Mitscherlich 1963, S. 158f)
Die 3. Begründung sich anzupassen, ist das Erleben von Unsicherheit, tiefem Minderwertigkeitsgefühl, das zur Überwindung, zur Kompensation drängt. Dabei muss zugleich eingeräumt werden, dass Kompensation doppelseitig ist, genauso häufig zum Widerspruch wie zu Unterwerfung führt. Das Kompensationskonzept (oder auch „Sicherungstendenz) zur Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls, ist die Grundlinie der persönlichen Entwicklung und der Ausbildung der Persönlichkeitsstruktur bei Adler (und ruft damit ebenso wie bei Gross eine „innere Zerrissenheit“ hervor). Es werden dabei gesellschaftlich bereitstehende Angebote der Kompensation aufgegriffen,– so das Streben nach Geltung, Anerkennung, Macht, Männlichkeit („„Männlicher Protest”) oder, wie Otto Gross, Adler zustimmend, das ausdrückt, der „Zwang zur Umwandlung des Willens zur Erhaltung der Individualität in den Willen zur Macht.“ (1914, S.85). In welcher Ausprägung kompensiert wird, hängt natürlich von der Fragestellung, von der Situation, von den gesellschaftlichen Verhältnissen und von den individuellen Vorerfahrungen ab. Auch hier gilt, dass die Unterordnung als autonome Handlung, als Freiheit, erlebt wird bis hin zum freudigen Gehorchen. Neben den sehr vielen Fallbeispielen für Kompensation, die Adler analysiert, finde ich eines besonders beeindruckend und vor allem aktuell, nämlich die Übernahme fremder Parolen als das Eigene in der Kriegsbegeisterung, wie sie Adler 1919 in eindrücklicher Weise in „Die andere Seite“ geschildert hatte: – was ich etwas länger zitieren will:
Er schildert wie in kompensatorischer Identifikation mit der Autorität der Schein von Größe und Autonomie aufrechterhalten und mit der Hoffnung auf Teilhabe an der Macht verbunden wird. Die Parolen „des Generalstabs“ wurden schließlich so übernommen, als seien sie die eigenen und seien Zeichen des Heldentums und des Gemeinschaftsgefühls (Liebe zur Nation). Nach jahrzehntelanger „Dressur eines weichen Volkes“, die es „zur Selbstunsicherheit und zum Gehorsam gegen die Oberen erzog“ (Adler 1919, S. 121), wurde das Volk im Krieg nun mit… „Lügennachrichten“ (S. 121) überzogen, es wurde Angst gemacht vor dem Feind, es wurde gehetzt gegen Spione, (S. 121f). Dem „verletzten, geknebelten Volk“ (S. 127) blieb nur „die geheime passive Resistenz“(126). „Dieses Volk wurde mit allen Mitteln der List und Gewalt in Unmündigkeit gehalten“. Dagegen haben die Kriegsfreiwilligen ihre Unterlegenheit kompensiert und wurden „Opfer einer falschen Scham.“ „Sie machten aus der Not eine Tugend“, und griffen „nach dem Ruf, der von dem Generalstab ausging…Und mit einem Male war ihnen, als ob sie selbst den Ruf ausgestoßen hätten… Nun waren es nicht mehr gepeitschte Hunde… nein, Helden waren sie, Verteidiger des Vaterlandes und ihrer Ehre… Im Rausche des wiedergefundenen Selbstgefühls, … in dieser seelischen Befreiung vom Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung und Entwürdigung… wichen sie scheu der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein“ (S. 128f).
Auch Adlers Schüler Manes Sperber beschäftigt sich an verschiedenen Stellen damit, wie Minderwertigkeitsgefühle die autoritäre Position, die Unterwerfung befördert,- so ausführlich in Sperbers Analyse des Nazi-Regimes (Analyse der Tyrannis, 1937, vgl .Bruder-Bezzel 2006; und 2019, S.213–239). Da die Unterlegenheitspositionen als unerträglich erlebt werden, müssen sie kompensatorisch, mit dem Willen zur Macht überwunden werden. Und so bringen autoritäre Beziehungen „Sklaven mit Usurpator‑, mit Herrschaftsgelüsten“ hervor (1934, S. 133) . Daher die Faszination der Macht und der Glaube an das Versprechen, teilzuhaben an der Macht des Herrschers. Es ist „der Machtrausch des Entmutigten“ (1937, S. 58), der den Mythos Feind schafft, durch den der Hass gegen unten, gegen andere, gegen Fremde, geschürt und legitimiert wird.
4. Begründung: Furcht vor der Freiheit
Das Einwirken eines Fremden als Vorgabe, wie etwas zu denken oder zu behandeln sei, eine Anordnung für Verhalten, ein Befehl, wirkt zwar einschüchternd, einengend, aber es gibt auch Halt, Orientierung, es erspart die selbständige Suche, es erspart das eigene Denken. Das hatte bereits Alexander Mitscherlich die „Ökonomie des Gehorchens“ (1963) genannt. „Die Vorwegnahme der Bedrohung… führt zum Gewohnheitsgehorsam“ zum „Gehorsam als Haltung“… „Die Gewohnheit des Gehorsams dient der Ökonomie, sich Unlust zu ersparen“ (Mitscherlich 1963, 212). Ganz ähnlich schätzt auch Erich Fromm es ein: „Solange man der Macht… gehorcht, fühlt man sich sicher und behütet…Mein Gehorsam gibt mir Anteil an der Macht, die ich verehre, daher fühle ich mich stark.“. Dagegen bedarf es Mut, „zu einer Macht nein zu sagen und ungehorsam zu sein.“ (Fromm 1963, S. 14). . Der „Furcht vor der Freiheit“ hatte er ein ganzes Buch gewidmet (1947/1980): Die Furcht vor der Freiheit, sich als Individuum zu sehen mit individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten, Angst vor dem Ausleben von Individualität und Non-Konformität, ist die Angst vor Unsicherheit und Hilflosigkeit. Die Furcht vor der Freiheit fördert, den Autoritarismus, die Konformität, und dazu werden zur Selbstlegitimierung die verschiedensten Abwehrmechanismen eingesetzt (Fromm 1947, S. 29ff).
IV Beruhigender Schluss
Wir wissen, dass Propaganda wirkt, aber auch, dass sie nicht immer und nicht bei allen wirkt. Sie kann aber nur wirken, wenn sie auf passende Bedürfnisse und Emotionen, auf bestimmte Wahrnehmungsmuster und Bereitschaften zur Angepasstheit einwirkt. Theoretisch und empirisch hatte dies bereits der adlerianisch geprägte Kommunikationsforscher Paul Lazarsfeld2 in den vierziger Jahren vertreten – und kam hierüber mit vielen Forschern in Amerika in Konflikt, u,a. mit Adorno. Menschen sind für ihn nicht reine Spielbälle der Medien, die erlebte soziale Realität könne nicht einfach durch Propaganda überspielt werden, wenn es im krassen Widerspruch steht oder gegen die eigenen Interessen gerichtet ist – sofern dies allerdings durchschaut wird. Und Lazarsfeld hebt auch die vermittelnde Rolle von Meinungsführern hervor, die Bedeutung der sozialen Beziehungen, der Freunde und Familie, die als
Verstärker der Einflussnahme oder als Schutz gegen sie wirken können, so dass man doch den eigenen Weg, das Eigene noch bewahren kann, statt sich zu unterwerfen, (vgl. Bruder-Bezzel 2021 S.27f).
Daher könnte die optimistische Parole wahr werden:
Es ist Krieg und keiner geht hin
Literatur
Adler, Alfred (1904). Der Arzt als Erzieher. In:. Studienausgabe I., S. 25–34
Adler, Alfred (1908) Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. In: Studienausgabe I, Seite 77–81
Adler, Alfred (1919). Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes. In Studienausgabe Bd. 7, S. 120–130
Adler, Alfred (1932). Die Systematik der Individualpsychologie. In: Studienausgabe Bd. 3,2010, S. 527–531
Adler, Alfred (2007). Persönlichkeit und neurotische Entwicklung frühe Schriften (1904–1912) Studienausgabe Bd. 1, Hg. Almuth Bruder-Bezzel Vandenhoeck& Ruprecht, Göttingen
Adler, Alfred (2009). Gesellschaft und Kultur (1897–1937). Studienausgabe Bd. 7, Hg. Almuth Bruder-Bezzel. Vandenhoeck& Ruprecht, Göttingen
Adler, Alfred (2010). Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937) Studienausgabe Bd. 3, Hg. Gisela Eife, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Beauvoir, de Simone (1949/1968. Das andere Geschlecht. Reinbek: Rowohlt
Bruder-Bezzel, Almuth/Bruder, Klaus-Jürgen (2004). Kreativität und Determination. Göttingen: Vandenhoeck& Rupprecht
.Bruder-Bezzel, Almuth (2006). Buchbesprechung: Manes Sperber zur Analyse der Tyrannis. Zeitschrift für Individualpsychologie, Heft 4, Seite 371–376
Bruder-Bezzel, Almuth (2019). Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse. Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie. Vandenhoeck& Ruprecht,
Göttingen
Bruder-Bezzel, Almuth (2020). Von der Frauenbewegung zum Postfeminismus. Zeitschrift für Individualpsychologie, Heft 1, S. 47–63
Bruder-Bezzel, Almuth (2021). Einleitung. Propaganda und Macht. In: Bruder-Bezzel, Almuth/Bruder, Klaus-Jürgen (Hg.) (2021). Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird. Frankfurt: Westend, S. 14–42
Brückner, Peter (1966/1983). Pathologie des Gehorsams. In: ders. Zerstörung des Gehorsams. Aufsätze zur politischen Psychologie. Wagenbach Berlin
Butler Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt: Suhrkamp Ellul, Jacques. (1962/2021). Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird. Westend, Frankfurt.
Fromm, Erich (1963/1985). Der Ungehorsam als ein psychologisches und ethisches Problem. In: ders. Über den Ungehorsam DTV 1985, S‑9–17
Fromm, Erich (1965/1985). Die Anwendungen der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie. In: ders. Über den Ungehorsam DTV 1985, S19-37
Fromm, Erich (1947/1980). Die Furcht vor der Freiheit. Europ. Verlagsanstalt, Frankfurt
Gross, Otto (1914/2000). Über Destruktionssymbolik. In: ders. von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Hamburg, Nautilus, S- 77–90
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Lippmann, Walter (1922/2018). Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird Frankfurt Westend
Mausfeld, Rainer (2018). Warum schweigen die Lämmer. Westend Frankfurt
Mitscherlich, Alexander (1963/1971). Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Pieper, München
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Sperber, Manes (1937/2006) zur Analyse der Tyrannis. Graz: Leykam
Witte, Karl-Heinz (2010). Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch ‑phänomene logische Analysen. Alber Verlag, Freiburg
1 Wegen des schlechten Images nennt man Propagandatätigkeit heute gern public relations (bereits seit Bernays) oder im Militärbereich, „strategische Kommunikation“ oder cognitive
warfare)
2 Lazarsfeld war der Sohn der Wiener Adlerianerin Sophie Lazarsfeld