„Digitalisierung“ – Sirenentöne und Schlachtruf der Kannibalistischen Weltordnung oder Aufforderung zum humanen und analogen gesellschaftlichen Wandel?”
„Digitale Revolution”, „Digitalisierung”, „Digitalpakt” und „5G-Mobilfunk”, „Internet der Dinge”, „Künstliche Intelligenz” (Blockchaining, Abschaffung des Bargeldes, autonomes Fahren etc.) lauten die klangvollen Refrains des Sirenengesangs, die von den Eliten der deutschen, westlichen und globalen Politik und Wirtschaft angestimmt werden.
Digitalisierung ist Staatsaufgabe mit höchster Priorität und festverbunden mit den sprachlich-metaphorischen „Frames” (Elisabeth Wehling) „Fortschritt”, „Wohlstand”, „Zukunft”, „Jugend” u.a.
Die Überzeugungsarbeit der Vorzüge, Erleichterungen, Verwöhnungen und Effizienzsteige-rungen der PC- und Mobile-gestützten und vernetzten Digitalwelt haben das Feld bereits gut vorbereitet, und das angestrebte 5G-vernetzte WEB 4.0 wird auch als Prolongierung und Optimierung dieser Positiveffekte verkauft.
Dennoch regen sich Kritik und zum Teil auch Widerstand gegen einen weiteren, intensivierten Ausbau der Digitaltechnologie:
Die Möglichkeit einer digitalen Totalüberwachung wird ebenso vorstellbar, wie der Verlust von immens vielen Arbeitsplätzen, von Privatheit, persönlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe, psychischer und physischer Unversehrtheit.
Der mit der angestrebten digitalen Hyper-Technisierung verbundene Extraktivismus wird die letzten Reserven an Rohstoffen angreifen und einen exorbitanten Energieverbrauch erfordern, die Klimakatastrophe verschärfen, die Natur (die natürliche Mitwelt des Menschen) mit Giftstoffen, Abfällen und hoch gepulster elektromagnetischer Strahlung hoher Frequenzen belasten.
Dies Alles folgt der Logik eines digital beschleunigten kapitalistischen Marktradikalismus, der schon alle Beschönigungen eines sog. „Neoliberalismus” weit hinter sich gelassen hat, und die Frage nach dem „cui bono” beantwortet sich fast automatisch im Hinblick auf wenige Machteliten und eine technische, des Programmierens fähige Oberschicht.
Der „Krieg nach innen und außen” wird im „Krieg um die Köpfe” grundgelegt und basiert immer mehr auf der Verfügungsgewalt über Elektronik, spätestens seit dem II. Weltkrieg ist das so. Digitale Computertechnik auf der Basis binärer Logik wurde als technische Antwort auf politisch-militärische Fragestellungen entwickelt im Kontext der Materialschlachten des II. Weltkrieges.
Der digitale Kapitalismus befindet sich im Kriegsmodus, weil er die Grundbedingungen und Fragestellungen seiner Anfänge weiter mit sich führt: schneller zu rechnen als der Gegner, mit spieltheoretischen Algorithmen dessen Züge antizipieren, Befehle effektiv abarbeiten, das Terrain erobern, „the winner takes it all”.
Die „äußeren Zwänge” der IKT-Welt sind längst innere Zwänge geworden, weil sie täglich seelisch metabolisiert werden: Daß eine maschinelle „Interface-Welt” ohne Bewußtsein und Verstehen gerade dieses total-simuliert, wird zum unheimlichen Hintergrund der Erfahrung und zur Ursache eines zuvorkommenden nicht authentischen Verhaltens, das stets mit Überwachung (und Entdeckt‑, Beschämt- und Beschuldigtwerden) rechnet. Privatheit und Geheimnis (schon frühkindlich Kern der Identitätsbildung) sind allein durch die Möglichkeit ihrer Verwehrung und Verletzung bedroht, durch die technisch umgesetzte Totalüberwachung werden sie zerstört und damit auch die Integrität der Person.
Was ist zutun im Übergang zu einer neuen Phase der Digitalisierung oder „Digitalen Revolution”?
Zunächst weist die aufkeimende Kritik auf etwas zum Digitalen Anderes hin: die mögliche Hochschätzung des Humanen und Analogen, die dem Wirklichen entspricht, das uns trägt, umgibt und erfüllt. Wir sind Menschen und analoge Wesen wie die Mitwelt, die Natur, in die wir eingebettet sind.
Die zur Zeit der Entwicklung der ersten auch gedanklich erarbeitete Kybernetik nach Norbert Wiener trug dieser Wirklichkeit auf verstehende und zulassende Weise Rechnung als Theorie der Information in technischen, lebendigen und sozialen Systemen, die aufgrund von Selbstregulation funktionieren (indem sie Feedback, auch negatives, verarbeiten).
Dieser andere Ansatz des respektvollen, verstehenden Umgangs mit komplexen Systemen drückt sich aus in mannigfachen Gestaltungen und Bewegungen neben dem „erfolgreichen” Mainstream des binär-digitalen Kapitalismus’, so in der Ökologie-Bewegung, in der Open-Source-Bewegung, in Systemischen Therapieansätzen – oder im Bereich der Musik als Community der Analog-Modularen Klangsynthese. Auch ist an alternative Online-Informationskanäle zu denken, die das Monopol der öffentlich-rechtlichen, privaten und kommerziellen Medien brechen.
Die Kybernetik sozialer Systeme hat in den beginnenden 70er Jahren eine Rolle gespielt in der DDR, in der UDSSR und im Chile Allendes, jeweils mit der erklärten Absicht, die Gesellschaftssysteme zum Nutzen Aller besser zu verstehen.
Im Rahmen der Zapatistischen Bewegung in Mexiko wird ein grundlegend anderer Begriff von Technologie und Technik entwickelt, der in einem sozialen System von partizipativem Zusammenleben, Verehrung der Schöpfung und einer symbolischen Kunst der Gemeinschaft wurzelt und dem o.g. offenen kybernetischen Ansatz Wieners sehr viel mehr entspricht als dem westlichen Digitalismus – obwohl auch hier Digitaltechnik eine wesentliche Rolle spielt, nur dient sie jetzt der Allgemeinheit, auch über die Grenzen der eigenen Kommunität hinaus durch die Vernetzung mit anderen indigenen Völkern.
Allerdings ist bei allen alternativen Online-Informationskanäle zu bedenken, daß auch hier Möglichkeiten der Überwachung und Decodierung gegeben sind, insbesondere weil es bei der kursierenden Software Programmebenen geben kann („Hintertüren”), die nur wenigen bekannt sind, und weil die Netz-Server größtenteils auch unter der Kontrolle weniger betrieben
werden (auch die Server des „Tor-Netzwerkes” werden nach wie vor zu einem Großteil vom US-Verteidigungsministerium finanziert).
Leitfragen
#) Ist es plausibel, in der aktuellen Digitalisierung (2.0) die Destruktivität des neoliberalen Systems der vergangenen Jahrzehnte zugespitzt zu erkennen und die Unfähigkeit dieses Systems, Krisen zu verarbeiten (und nicht nur umzudefinieren und auszulagern), in seiner apokalyptischen Gefahr zu demaskieren?
#) Welche konkrete, relevante Kritik der Digitalität und ihrer Auswirkungen ist in den diversen gesellschaftlichen Bereichen, Praxisfeldern und Fachdisziplinen zu greifen und zu erzählen?
#) Wäre als Antwort auf die sich zuspitzende Situation der neuen Digitalisierung 2.0 – diese als historische Chance begreifend – das Eintreten für einen „humanen und analogen gesellschaftlichen Wandel” denkbar?
#) Worin könnten entscheidende Dimensionen eines humanen und analogen gesellschaftlichen Wandels bestehen? Wäre dieser Wandel eine „Große Erzählung”, was stünde dann in den einzelnen Kapiteln und wie könnte daraus der Band zusammengefügt werden?
#) Insbesondere gefragt nach der „Abwicklung” der DDR-Wissenschaft nach 1989: Welches kritische Potential ist uns verlorengegangen in den Bereichen Kritische Informatik und Allgemeine Kybernetik? Gibt es eine Möglichkeit der Rekonstruktion und Reaktualisierung?
#) Welche veränderten und verändernden Praxen gibt es schon, die sich der Hochschätzung des Humanen und Analogen verpflichtet wissen? Welche Desiderate und Utopien sind unerfüllt, wie können sie zusammengeführt werden?
#) Unter welchen Umständen, mit welchem Vorgehen, könnte eine solche „Analoge Revolution” des Humanen und der zu bewahrenden Natur „kulturelle Hegemonie” (Gramsci) erlangen?
#) Welche politischen Forderungen ergeben sich sofort aus den Notwendigkeiten der aktuellen Situation?
Wir laden dazu ein, Vorschläge für Kongressbeiträge mit Titel, einer Zusammenfassung von ca. 300 Wörtern und kurzen Angaben zur Person bis zum 15.09. 2019 an kongress-orga@ngfp.de zu senden.
Hinweis: Wir haben dieses Mal einen kleineren zeitlichen Rahmen geplant.
Aus diesem Grund werden wir leider nicht alle Vorschläge aufnehmen können.
Eine ausführliche Version des CfP als [pdf]
Die Mitglieder der Orga-Gruppe: Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Bernd Leuterer, Jürgen Günther, Raina
Zimmering, Werner Köpp, Julia Kansok-Dusche, Bernd Nielsen.