Wir möchten Sie auf eine Rezension von Tilmann Moser des Buches „Neoliberale Identitäten” hinweisen, das aus der gemeinsamen Arbeitsgruppe „Psychoanalyse und Gesellschaft” von NGfP und DGPT hervorgegangen ist.
Ökonomisierung: Vom Einfluss des Geldes auf die Therapie
Erschienen im Ärzteblatt PP15, Ausgabe Juni 2016, Seite 286 (https://www.aerzteblatt.de/archiv/179847/Oekonomisierung-Vom-Einfluss-des-Geldes-auf-die-Therapie)
Programmatisch schreibt die Mitherausgeberin des kritischen Bandes „Neoliberale Identitäten“, Almuth Bruder-Bezzel, über die Auswirkungen des Spardrucks auf die seelischen Zustände der Individuen wie der Psychotherapeuten: „So werden immer umfassender alle Lebensbereiche einer Ökonomisierung ausgesetzt, eine Strategie der reinen Kosten-Nutzen-Rechung. Die Marktmechanismen werden immer umfassender zur Basis individueller und kollektiver Lebensbedingungen.“
Dies zeigt in einem düsteren Ausmaß der frühere Leiter einer psychosomatischen Klinik, Wolfram Keller, in seinem Aufsatz „Stationäre Psychosomatische Behandlung im Spannungsfeld ökonomischer Zwänge“. Die Sparzwänge verwandeln die Diagnosen wie die Beziehungen der Therapeuten zu ihren Patienten: Die Behandlungszeiten schrumpfen, die Therapiemethoden werden zunehmend standardisiert, auch durch die „Manualisierung“ der Abläufe. Und dies um so mehr, als viele „Seelenkliniken“ zu profitorientierten Institutionen werden: So verfügt die „Rhönklinik“ über fast 140 Häuser, und die Therapeuten arbeiten unter hohem Zeit- und Erfolgsdruck nach einengenden „Effizienzkriterien“, sodass er von einem „Reparaturbetrieb“ spricht, der die Rolle der Therapeuten zu einer „Veroberflächlichung“ der Beziehungen verändert.
Andere Autoren beklagen die Wirkung der allgemeinen sozialen Beschleunigung auf die Identitätsbildung, die zu einer „Entfremdung des Selbst“ führen können, weil der Grad der Außenorientierung zunimmt, und da die Ich-Ideale der Leistungsfähigkeit erhalten bleiben, kommt es zu einer „Tragödie der Unzulänglichkeit“, die zum massenhaften Burn-out bei Menschen führen kann, die nicht mehr durchschauen, welchen Erfolgskriterien sie unterliegen. Für die Kassen wie für die Klinikverwaltungen müssen Diagnosen „operationalisiert“ werden, sodass der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio zu der bitteren Aussage von der „Psychotherapie nach dem Modell der industriellen Produktion“ kommt. Es kommt zu einer „Veränderung des Selbstverständnisses des Therapeuten“, der oft gar nicht die Zeit hat, eine vertiefte und haltgebende Beziehung zum Patienten aufzubauen. Mehrere Autoren plädieren deshalb für eine notwendige „Entschleunigung“ der Verfahren. Längst rivalisieren aber verschiedene Therapieschulen um den Rang bei Kliniken wie Kassen mit Behauptungen über eine „effizienzbasierte Verkürzung“ der Behandlungszeiten.
Das Buch stellt in seiner Bilanz eine Art Menetekel dar, eine Warnung vor einer Entwicklung zu einer drohenden Dehumanisierung von Psychotherapie, der vielleicht noch Einhalt geboten werden kann. Tilmann Moser
Almuth Bruder-Bezzel, Klaus-Jürgen Bruder, Karsten Münch (Hrsg.): Neoliberale Identitäten. Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, 160 Seiten, kartoniert, 19,90 Euro